A. Collenberg (Hg.): Die Rechtsquellen des Kantons Graubünden

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Titel
Die Rechtsquellen des Kantons Graubünden, B. Die Statuten der Gerichtsgemeinden. Dritter Teil: Der Obere Bund, Bd. 2: Die Gerichtsgemeinden am Hinterrhein, unter Mitarbeit von Jessica Meister.


Herausgeber
Collenberg, Adrian
Reihe
Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen (15)
Erschienen
Basel 2021: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
3818 S.
von
Enrico Natale, Infoclio.ch Fachportal für Geschichtewissenschaft in der Schweiz, Schweizeriche Academie für Geistes- und Sozialwissentschaft.

Nach den vier Bänden zu den Gerichtsgemeinden am Vorderrhein (SSRQ GR B III/ 1: Surselva, 2012), präsentiert der sachkundige Quellenbearbeiter und Historiker Adrian Collenberg nun die Rechtsquellen der Gerichtsgemeinden am Hinterrhein: Rhäzüns, Obersaxen, Tenna, Safien, Trin/Tamins, Heinzenberg, Thusis, Tschappina, Schams/Val Schons und Rheinwald. Zwar liegen nicht alle diese Gerichte geografisch am Hinterrhein, sie gehören jedoch historisch zum entsprechenden herrschaftlichen Einzugsgebiet und werden deshalb zusammen behandelt. Die neuen Bände vollenden die Edition der Rechtsquellen des 1395/1424 entstandenen Oberen Bundes, der dank dieser und weiterer Quelleneditionen wie die Jahrzeitbücher, Urbare und Rödel Graubündens (Chur, Staatsarchiv Graubünden 1999) zu einer der rechtshistorisch am besten erschlossenen Regionen Graubündens gehört.

Der erste Halbband enthält ein Verzeichnis der für die Edition ausgewählten Stücke, die nach Gerichtsgemeinden chronologisch geordnet sind. Es handelt sich insgesamt um 1220 Haupt-Quellenstücke, die entweder als Regest oder im Vollabdruck ediert werden. Die Regestenform wird hauptsächlich dann gewählt, wenn der Text bereits anderweitig im Druck vorliegt. Vor oder nach den Hauptstücken weist der Bearbeiter auf zahlreiche weitere Dokumente hin, die im Zusammenhang mit diesen stehen und ebenfalls mit Angabe von Datum, Inhalt, Archiv und vorhandenen Editionen/Regesten, teilweise sogar von Textabschnitten, wiedergegeben werden. Die Dokumente reichen vom Ende des 13. bis Anfang des 19. Jahrhunderts, wobei die ältesten aus den Gerichtsgemeinden Rheinwald (1277, 1286, 1338), Safien (1338), Schams/Schon (1338) und Thusis (1344) und das jüngste aus Rhäzüns (1819) stammen.

Bei der Auswahl wurde der Fokus auf die Rechtspraxis gerichtet. Dementsprechend findet man – neben Verträgen – zahlreiche Gerichtsurteile oder vor Gericht abgewickelte Geschäfte. Bei zivilgerichtlichen Prozessen werden auch die Rekurswege aufgezeigt. Der Obere Bund besass nämlich ein Appellationsgericht. Im strafrechtlichen Bereich wird versucht, die vorhandenen Strafarten (Geldstrafen, Verbannung, Pranger) aufzuzeigen. Kriminalfälle sind seltener dokumentiert und setzen erst ab dem Anfang des 17. Jahrhunderts mit den Hexenprozessen ein.

Ein thematischer Schwerpunkt bildet die Entstehung der Gerichtsgemeinden bzw. deren Gerichtspraxis und der Ablösungsprozess von den feudalherrschaftlichen Rechten. Nicht weniger wichtig sind jedoch auch die früheren Nachbarschaften (seit 1851 politische Gemeinden) bzw. deren polizeilichen Aufgaben und Kompetenzen in der Weid- und Waldnutzung. Die Auswahl der Stücke erfolgt pragmatisch aufgrund des vorhandenen Quellenmaterials, das, neben dem Bischöflichen Archiv Chur und dem Staatsarchiv Graubünden, hauptsächlich in den Archiven der ehemaligen Kreisen und Gemeinden liegt.

Dem Stückverzeichnis folgt eine umfangreiche historische Darstellung der behandelten Gerichtsgemeinden, der lokalen Herrschaftsverhältnisse, der Nachbarschafts- und Organisationsstrukturen, der Gerichtsorganisation und der rechtshistorischen Entwicklung. Gerade diese war bei den Gerichtsgemeinden am Hinterrhein sehr unterschiedlich. Obwohl alle Gemeinden zum Oberen Bund gehörten, weist jede eine besondere Geschichte auf. So gelang es der Talschaft Schams sich bereits 1458 von der Herrschaft des Bischofs von Chur loszukaufen, während in Rhäzüns die österreichischen Herrschaftsrechte bis Anfang des 19. Jahrhunderts bestehen blieben. Der Ammann als Gerichtsvorsteher wurde – je nachdem, wie die Herrschaftsverhältnisse lagen, von der Herrschaft oder von der Gerichtsgemeinde selbst gewählt. Die edierten Quellen erlauben, die Entwicklung «vom Feudalismus zur Demokratie» – um die Worte des Bündner Juristen und Historikers Peter Liver zu benutzen – Schritt für Schritt zu verfolgen. Das Streben nach Selbstbestimmung und Selbstverwaltung kommt nicht zuletzt in den genossenschaftlich organisierten Bereichen der kirchlichen Organisation, der Nutzung der lokalen Ressourcen (Alpen, Weiden, Wald) und der lokalen Verwaltung zum Tragen.

Normative Quellen sind in dieser Sammlung eher spärlich vertreten. Einige wurden bereits 1884 von R. Wagner in der Zeitschrift für schweizerisches Recht veröffentlicht. Darauf wird in der vorliegenden Edition mit Regesten verwiesen. Die restlichen sind integral aufgenommen worden. Überliefert sind hauptsächlich Ordnungen, welche das Alltagsleben, die Aufnahme ins Bürgerrecht und die Nutzung der Allmende regeln, wie zum Beispiel die Satzungen der Gemeinde Tenna um 1650 (S. 627), die Gemeindeordnung von Tamins von 1688 (S. 1073) oder die Dorfordnungen von Thusis (S. 1737, 1825). Überliefert sind aber auch Regelungen für das religiöse Leben und das Gericht (S. 770, 847, 1506, 1789, 1813, 1835). In kirchlichem Bereich setzen die Ilanzer Artikelbriefe von 1524 und 1526 mit ihrem normativen Verbindlichkeitsanspruch bedeutende Akzente auch in der Rechtsprechung.

Den historischen Übersichten, in denen jede Gerichtsgemeinde separat behandelt wird, folgen die Quellenfundorte. Collenberg geht auf die einzelnen Archive bzw. auf die Bestände ein, die benutzt wurden. Hier kommen seine profunden Kenntnisse der Quellen zum Ausdruck und es wird sichtbar, wie viele private und öffentliche Archive durchforstet werden mussten, um diese Edition vorzubereiten. Ziel des Bearbeiters ist, «möglichst alle alten Urkunden, […] die frühesten Aktenreihen und Protokolleinträge» zu publizieren (S. 207).

Die Quellensprache ist vorwiegend Deutsch, gelegentlich findet man vor 1800 rätoromanische und italienische Texte. Die Sprache der Kirche sowie der Notare bleibt bis in die Neuzeit das Latein. Die Transkriptionsregeln der Schweizerischen Rechtsquellen ermöglichen eine gute Lesbarkeit der deutschen Texte, nicht zuletzt dank dem Unterscheiden von «u» und «v», die nicht buchstaben- sondern lautgetreu (also «und» statt «vnd») wiedergegeben werden. Einen Überblick über die relevanten Quellenpublikationen und Literatur bietet Kap. 4.1, das mehr als 30 Seiten umfasst.

Erschlossen werden die Texte durch ein 200-seitiges Register der Personen, Familien und Organisationen, ein knapp 80-seitiges Ortsregister und ein 189-seitiges Sachregister und Glossar. Die Register basieren auf einer SSRQ-Datenbank, die elektronisch abrufbar ist.1 In den Registern ist die Schreibweise der Namen standardisiert. Personen- und Ortsnamen werden in der heutigen Schreibweise aufgeführt (fett und kursiv), gefolgt von den historischen Schreibvarianten.

Ein Mehrwert im Vergleich zu anderen regionalen Quelleneditionen bietet das Sachregister und Glossar. Dieses führt neben den standardisierten Quellenbegriffen kursiv den modernen Begriff und ermöglicht somit das Verständnis von sonst kaum mehr gebräuchlichen Ausdrücken. In den weiteren vier Halbbänden folgen die Dokumente, die durch ihre thematische Vielfalt ein gutes Bild des damaligen Rechtsalltags vermitteln und wichtiges Material für die Forschung liefern.

Die Editionsarbeit ist von Collenberg praktisch im Alleingang gestemmt worden. Der Beitrag von Jessica Meister bezieht sich auf die Register. Bezüglich der Kontrolle nach dem vier-Augen-Prinzip ist dies zwar nicht ideal, die Rechtsquellen gehören jedoch zu den wenigen noch laufenden gross angelegten Editionsprojekten, die zudem umfassendes Material bis in die neuere Zeit publizieren. Das ist ein gewichtiger Pluspunkt im Vergleich zu herkömmlichen Quelleneditionen, die meistens nur bis 1300 oder 1400 reichen.

Anmerkung:
1 Siehe www.ssrq-sds-fds.ch/projekte/ssrq-online/suche-register/ (6.8.22).

Zitierweise:
Saulle Hippenmeyer, Immacolata: Rezension zu: Collenberg, Adrian (Hg.): Die Rechtsquellen des Kantons Graubünden, B. Die Statuten der Gerichtsgemeinden. Dritter Teil: Der Obere Bund, Bd. 2: Die Gerichtsgemeinden am Hinterrhein, unter Mitarbeit von Jessica Meister, Basel: Schwabe, 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 449-451. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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